Der klapprige Bus ratterte über die staubigen Straßen Richtung Süden, ins stickig-heiße kolumbianische Magdalena. Er brummte und summte, dass man sein eigenes Wort nicht verstand.
Erschöpft von der Hitze, dösten die meisten mit halb geschlossenen Augen in ihren Sitzen, berieselt von den romantischen Klängen des Vallenato, die aus dem Führerhaus drangen. Je länger wir fuhren, desto heißer wurde die Luft. Ich saß als Einzige aufrecht und angespannt in meinem Sitz.
Bald musste das Zeichen von vorne kommen.
Auf einer Biegung im Nirgendwo hielten wir plötzlich mit quietschenden Reifen und ich sprang aus dem Bus. Der Asphalt glühte in der Mittagshitze und die Sonne brannte vom Himmel. Da stand ich nun und schaute dem Bus hinterher, der in einer Staubwolke verschwand.
Dieser Moment hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt. Es war, als hätte die Zeit stillgestanden.
Heute vor 3 Jahren war ich an einem magischen Ort. Dort wo der Stoff für Erzählungen aus einer anderen Welt gemacht wird.
Am 29. August 2011 war ich schon mehr als zwei Jahre in Kolumbien und ahnte innerlich, dass sich meine Zeit dort dem Ende entgegen neigte. Ich war mit Freunden an der Karibikküste in Cartagena und wollte, bevor ich ging, noch einen ganz besonderen Ort sehen. Also stieg ich in den Bus und fuhr ins brütendheiße Landesinnere, nach Aracataca.
Aracataca. Ein Name, den man nicht so leicht vergisst. Dieses abgelegene Dorf am Sumpfgraben ist der Geburtsort des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel García Márquez, dessen Romane und Erzählungen ich alle verschlungen hatte und dessen Schreibstil des magischen Realismus so einzigartig ist.
Es war, wie im mythischen "Macondo" aus "Hundert Jahre Einsamkeit" zu sein.
Im verstaubten Telegrafenamt, wo einst García Márquez's Vater als Telegrafist arbeitete, fühlte ich mich zwischen alten Schreibmaschinen und vergilbten Fotoplatten um hundert Jahre zurückkatapultiert. Der Platz unter den Mandelbäumen, der weiße Friedhof, die am palmengesäumten Flussufer badenden Kinder. Ein Mosaik aus wundersamen Augenblicken.
Für mich war Aracataca gelebte Poesie, nie werde ich diesen Tag vergessen.
Wie die Zeit alles verändert. Manchmal kommt es mir vor, als wären die Jahre in Kolumbien ein Traum gewesen.
Damals und heute. Wie zwei unterschiedliche Leben.
Damals arbeitete ich für das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). Erst in der Hauptstadt Bogotá, dann im Süden, wo die Flüchtlingswellen zunahmen und Unterstützung dringend nötig war. Ich pendelte über Monate mit dem Bus zwischen Bogotá, Neiva und Florencia, eine sehr intensive Zeit, an die ich mich oft zurückerinnere. Später wechselte ich zum Jesuiten Flüchtlingsdienst nach Bogotá, lebte im beschaulichen Viertel Teusaquillo.
Das Leben war schön. Nach mehreren Auslandsstationen war ich endlich angekommen. Dachte ich zunächst.
Ich hatte selten Heimweh, aber immer Fernweh.
Nirgends fühlte ich mich so lebendig, wie im Ausland. Alles ist neu, anders, spannend. Deine Werte, Überzeugungen, Ansichten werden in Frage gestellt. Es gab Höhen und Tiefen und ich lernte so viel. Über mich, über andere. Kaum saß ich im Flieger auf dem Weg in ein neues Abenteuer, plante ich schon den nächsten Auslandsaufenthalt.
Es gab unzählige Momente, die ich nicht missen möchte, die so intensiv waren, dass ich sie nie vergessen werde.
Die Ankunft in Aracataca war so einer. Meine Füße im warmen, türkisblauen Karibikwasser von San Andrés ein anderer. Oder die Fahrt vom kolumbianischen Cúcuta ins benachbarte venezolanische San Antonio del Táchira auf einem kleinen Motoroller unter Sternen.
Meine Freunde sah ich meistens nur an Weihnachten oder auf der Durchreise für ein paar Stunden am Berliner Hauptbahnhof. Nicht alle Freundschaften hielten diesem Lebensstil stand und ich merkte immer mehr, wie sehr mir Freunde und Familie fehlten. Skype-Treffen sind einfach nicht dasselbe, wie spontane Besuche übers Wochenende, kurze Hallo-Wie-Gehts-Anrufe oder der Austausch von Alltagskuriositäten. Man hat eben kein Stückchen Alltag zusammen. Meine Eltern und Großeltern sah ich nur an Weihnachten, wenn mein Bruder aus den USA und ich aus Kolumbien kamen.
Vielleicht liegt es daran, dass man sich immer nach dem sehnt, was man nicht hat. Oder daran, dass sich mit der Zeit die eigenen Prioritäten ändern. Mit Ende 20 jedenfalls bekam ich das, womit ich nie gerechnet hätte.
Heimweh. Ich wollte Beständigkeit.
Und ich entschied mich, zurückzukehren in die Heimat. Was dann passierte und wie ich überhaupt zur Familienfotografie kam, erzähle ich euch hier.
Und heute? Heute bin ich 31 geworden. Vorhin habe ich den Wohnungsvertrag für meine neue Wohnung in Berlin unterschrieben.
Da ist es wieder, dieses Gefühl der Aufbruchsstimmung. Wieder ein neuer Abschnitt, auch wenn es "nur" quer durch Deutschland geht. Bonn wird mir fehlen. Die letzten zweieinhalb Jahre in dieser kleinen Stadt am Rhein haben mich geprägt. Hier habe ich meine neue Bestimmung gefunden.
Nun geht es in die Hauptstadt. Endlich. Noch näher dran an Familien und Freunden.
Weitere Sehnsuchtsorte gibt es im Moment nicht. Ein "Und nach Berlin geht's nach ..." auch nicht. Und das fühlt sich richtig gut an.
Diesen Text habe ich 2014 geschrieben. Wow, wie die Zeit vergeht. Wie es danach weiterging, erzähle ich dir hier und hier.